Zähne zusammenbeißen?!
Diese Redewendung kommt nicht von ungefähr. Sie bedeutet, Ängste, Sorgen, Kummer, Trauer, Überforderung und Stress zu verarbeiten. Dies äußert sich oft in nächtlichem Zähneknirschen, dem sogenannten Bruxismus. Er ist ein hörbares Signal, dass im Gesamtsystem des Körpers etwas nicht stimmt …
Zähneknirscher drücken, meist unterbewusst im Schlaf, die obere und untere Zahnreihe mit enormer Kraft aneinander – oft um das Zehnfache des normalen Kaudrucks. Weniger wäre eindeutig mehr – für das Gebiss wie den Partner oder die Partnerin, wenn man daneben ungestört schlummern will. Eigentlich müssten sich unsere Zähne in der Nacht ebenfalls eine Pause gönnen. DDr. Martina Schmid-Schwap, a.o. Universitätsprofessorin und Leiterin der ‚Spezialambulanz Funktionsstörungen – Prothetik‘ an der Universitätszahnklinik Wien: „Sie sollten sich in der Ruheschwebe befinden. In diesem Zustand haben die obere und untere Zahnreihe einen Abstand von einigen Millimetern und berühren einander nicht.“ Bei vielen Menschen ist das Gebiss in der Nacht jedoch höchst aktiv – es wird geknirscht und gepresst, mit weitreichenden Folgen …
Volkskrankheit Bruxismus
Laut der deutschen „Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik“ sind mindestens 20 Prozent aller Menschen von Bruxismus betroffen. Andere Quellen gehen sogar von 70 Prozent aus. Beschwerden, die meist zwischen 20 und 40 Jahren zum ersten Mal auftreten, haben Schätzungen zufolge bis zu 80 Prozent aller Frauen und bis zu 50 Prozent der Männer.
Diese äußern sich einschlägig und meist am Morgen nach einer durchknirschten Nacht: Schmerzen im Kieferbereich und der Kaumuskulatur, Gelenksgeräusche wie Knacken oder Reiben und Probleme beim Öffnen des Mundes. Laut Schmid-Schwap können bei Patienten mit Funktionsstörungen auch weiter entfernte Körperteile betroffen sein: „Das Zusammenpressen der Zähne in der Nacht kann mit Hals- und Nackenproblemen, Kopfschmerzen und sogar Tinnitus zusammenhängen.“ Unser Kiefer, die Muskulatur, das Zentralnervensystem und die Wirbelsäule stehen in ständiger Wechselwirkung. Die Zähne gelten nicht umsonst als Spiegel der Organe. Natürlich leiden diese bei Bruxismus auch selbst: durch Abnutzung und Absplitterung des Schmelzes – eine zahnmedizinische Behandlung ist nötig.
Schlafstörungen für Zähne, Folgen für den gesamten Körper
Die Ursachen von Bruxismus sind vielfältig: Neben psychischen Gründen und Stress, besonders in Zeiten einer Pandemie, kann auch eine neue Plombe, eine Krone oder ein Zahnersatz der Auslöser sein, wenn diese ‚zu hoch‘, also nicht optimal eingepasst sind. Selbst orthopädische Probleme wie Fehlhaltungen sind potenzielle Auslöser des Zusammenpressens der Zähne. Schmid-Schwap weist auch auf die Wichtigkeit einer raschen Therapie dieser Erkrankung hin: „Die craniomandibuläre Dysfunktion ist eine Funktionsstörung des Kausystems. Sie tritt häufig auf, hat jedoch bei rascher Behandlung im ersten Stadium eine gute Heilungsprognose – die Symptome sind zu diesem Zeitpunkt häufig noch reversibel und nur vorübergehender Natur.“
Weil Bruxismus viele Ursachen haben kann, arbeitet man bei der Therapie in der Wiener Universitätszahnklinik interdisziplinär zusammen: mit Expertinnen und Experten aus den Fachbereichen Hals-Nasen-Ohren, Neurologie, Psychiatrie, physikalische Medizin, Orthopädie, Kieferchirurgie, innere Medizin, Physiotherapie, Osteopathie, Cranio-Sacral-Therapie und Logopädie. Schmid-Schwap: „Am Anfang steht ein ausführliches Anamnese-Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten. Danach erfolgt eine klinische Funktionsanalyse und bei Bedarf eine weiterführende bildgebende Diagnostik, zum Beispiel mittels Magnetresonanztomografie. Gute Erfahrungen haben wir auch mit einer Entspannungstherapie und dem Biofeedback gemacht. Und eine individuell angepasste Aufbissschiene hilft dabei, Zahnschäden zu vermeiden und die Kiefergelenke zu entlasten.“ Denn es kommt auf den richtigen Biss an – im Hinblick auf gesunde Zähne sowie erholsamen Schlaf.
So geht's!
NIE WIEDER ZÄHNEKNIRSCHEN
Übungen & Expertentipps gegen Bruxismus von a. o. Univ.-Prof. DDr. Martina Schmid-Schwap:
Beobachten Sie tagsüber Ihre Kaumuskulatur: Die Zähne sollten einander nur beim Kauen oder Schlucken kurz berühren – höchstens 15 Minuten am Tag. Malen Sie ein rotes Kreuz oder einen schwarzen Punkt auf ein weißes Stück Papier. Oder heften Sie auffällige Aufkleber an Gegenstände in Ihrer Umgebung: die Armbanduhr, den Computermonitor oder das Handy. Immer wenn Sie das Kreuz, den Punkt oder das Pickerl sehen, kontrollieren Sie die Stellung Ihrer Zähne. Ertappen Sie sich mit zusammengebissenen Zähnen, öffnen Sie für zirka zehn Sekunden etwas den Mund. Dann entspannt schließen und darauf achten, dass sich die Zähne nicht berühren.
Stress reduzieren: Das funktioniert am besten durch autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, Entspannungstechniken, Ausdauersport oder Spazierengehen.
Pause fürs Kiefer: Verzichten Sie vorübergehend auf harte und zähe Nahrung (Steaks etc.) und genießen Sie mittelweiche Kost. Auch Kaugummikauen ist bei Schmerzen ein No-Go.
Kalt – warm: Kälte in Form eines Coolpacks kann bei akuten Gelenksschmerzen nützlich sein. Aber auch Wärme oder die Bestrahlung mit rotem Licht kann die Muskulatur lockern.
Oommm!: Eine örtliche Selbstmassage der schmerzenden Stellen sorgt für Entspannung.
Text: Karin Lehner | Foto: ISTOCK_ALEKSANDR RYBALKO, Universitätszahnklinik Wien
Das Thema „Zähne zusammenbeißen?!“ erfahren Sie in GESUND & LEBEN 12/21.