Gewitter im Kopf

Mehr als ein Zehntel aller Österreicher leidet an Migräneattacken. Im Gespräch mit GESUND & LEBEN erläutert der führende Experte im deutschsprachigen Raum, Neurologe Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, warum es zu den schmerzhaften Kopfschmerzattacken kommt, warum Frauen häufiger betroffen sind, wie medikamentöse und nicht medikamentöse Therapien helfen können und für wen die neue Antikörpertherapie geeignet ist.

„Wie ein Gewitter in Kopf, das tagelang wütet.“ – „Es fühlt sich an, als würde man erblinden.“ – „Wie eine Grippe, ein Magen-Darm-Virus und unerträgliche Kopfschmerzen gemeinsam.“ So oder so ähnlich lauten die Antworten, bittet man Patienten darum, ihre regelmäßigen Migräneattacken zu beschreiben. Die Symptome der häufigsten neurologischen Erkrankung können von Person zu Person variieren, gemein ist allen Betroffenen, dass es sich um sehr viel mehr handelt als gewöhnliche Kopfschmerzen. Viele Migränepatienten – in Österreich sind es rund elf Prozent der Bevölkerung – können sich während einer akuten Attacke nur in abgedunkelten, ruhigen Räumen aufhalten. Die Bewältigung des normalen Lebens ist während dieses Zustandes, der laut Internationaler Kopfschmerzgesellschaft zwischen 4 bis 72 Stunden anhalten kann, für einen Großteil der Betroffenen undenkbar.

Erbliche Vorbelastung

„Wir wissen heute, dass die Vererbung eine wesentliche Rolle spielt. Mittlerweile sind mehr als 60 Genorte in unserem Genom identifiziert, die mit Migräne assoziiert sind,“ erklärt Prof. Dr. Hans-Christoph Diener vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und vom Klinischen Studienzentrum der Universität Duisburg-Essen den Hintergrund der Erkrankung. Die höchste Prävalenz findet sich bei Erwachsenen zwischen 20 und 50 Jahren, wobei Frauen dreimal häufiger betroffen sind als Männer. „Eine Erklärung dafür sind Schwankungen im weiblichen Hormonspiegel, die häufig auch einen potenziellen Trigger-Faktor für Migräneattacken darstellen“, erläutert Diener, der zu den renommiertesten Migräneexperten Europas zählt. Vieles rund um die Erkrankung ist noch ungeklärt, als sicher gilt: Migräne ist nicht heilbar, kann aber akut wie vorbeugend medikamentös und nicht medikamentös behandelt werden.

 

Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Leiter der Neuroepidemiologie am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und vom Klinischen Studienzentrum der Universität Duisburg-Essen

 

MIGRÄNE IST NICHT HEILBAR, KANN ABER AKUT WIE VORBEUGEND MEDIKAMENTÖS UND NICHT MEDIKAMENTÖS BEHANDELT WERDEN.“

 

Eine Überreaktion des Gehirns

Migräne unterscheidet sich von gewöhnlichen Kopfschmerzen, die fast jeder Mensch ab und zu hat. Die neurologische Erkrankung basiert auf einer Funktionsstörung des Gehirns und jener Strukturen, die für die Schmerzentstehung und -verarbeitung verantwortlich sind. Die starken, meist einseitigen, pulsierenden und pochenden Kopf- und Gesichtsschmerzen selbst kommen durch eine Überempfindlichkeit von Nervenendigungen im Bereich der Hirnhaut und in den Wänden der Blutgefäße, die das Gehirn mit Blut versorgen, zustande. „Zusätzlich kommt es während einer Migräneattacke zu einer Ausschüttung von Botenstoffen wie Serotonin und Calcitonin Gene- Related Peptide“, so der Neurologe. Die abgekürzt als CGRP bezeichnete Substanz spielt eine wichtige Rolle in der Kontrolle von Schmerzentstehung, Schmerzübertragung und Schmerzwahrnehmung. Bei rund 15 bis 20 Prozent aller Betroffenen kündigt die sogenannte Aura die nächste Attacke an. „Darunter versteht man neurologische Reiz- und Ausfallserscheinungen, die sich langsam entwickeln und wieder zurückbilden. Am häufigsten sind Sehstörungen in Form von gezackten Linien oder Lichtblitzen, es kann aber auch zum Ausfall der Sehfunktion in der Mitte des Gesichtsfeldes mit einem schwarzen Fleck kommen“, so Diener. „Da die Hirnrinde von Betroffenen überempfindlich ist und äußere Reize stärker wahrnimmt, sind Patienten häufig auch zwischen den Migräneattacken licht-, lärm- und geruchsempfindlicher.“


Die Behandlung akuter Attacken

Zur Linderung von leichteren bis mittelschweren Migräneattacken werden in erster Instanz einfache Schmerzmittel wie Ibuprofen, Paracetamol oder Acetylsalicylsäure (Aspirin) eingesetzt. Auch Kombinationspräparate aus Aspirin, Paracetamol und Koffein zeigen bei akuter Migräne deutliche Wirkung, wie eine aktuelle Metaanalyse deutscher Kopfschmerzexperten ergeben hat. Die Forscher analysierten sieben Studien mit insgesamt 3.306 Teilnehmern. 2.147 der Migränepatienten behandelten ihre akute Migräne mit der Wirkstoffkombination, 1.159 der Patienten erhielten stattdessen ein Placebo. Die Schmerzfreiheit zwei Stunden nach der Behandlung erreichten mehr Patienten mit Wirkstoffkombination (19,6 %). „Wirken die einfachen Schmerzmittel nicht, kommen die sogenannten Triptane zum Einsatz“, erläutert Diener. Dabei handelt es sich um Substanzen, die speziell zur Behandlung von Migräneattacken entwickelt wurden. „Die Triptane wirken sowohl auf die erweiterten Blutgefäße im Bereich von Hirnhaut und Gehirn als auch auf die Nervenendigungen schmerzleitender Fasern im Bereich von Kopf und Gesicht im Gehirn und haben auch eine positive Auswirkung auf häufige Begleiterscheinungen von Migräne wie etwa belkeit und Erbrechen“, erklärt der Neurologe.


Medikamentöse Vorbeugung

Leider gibt es aber auch Migränepatienten, die zu viele und schwere Attacken erleiden und weder durch einfache Schmerzmittel noch durch Triptane Linderung ihrer Schmerzen erfahren. „Diese Patienten benötigen eine medikamentöse und nicht medikamentöse Therapie“, erläutert Diener. Sieben verschiedene Medikamentengruppen wie beispielsweise Betablocker oder Botulinumtoxin (Botox) stehen als medikament se Prophylaxe zur Verfügung. Da sie aber häufig zu Nebenwirkungen führen, können sie nicht von allen Betroffenen auf lange Sicht eingenommen werden. Hoffnung für diese Patienten bietet seit wenigen Jahren eine Antikörpertherapie. „Diese monoklonalen Antikörper werden einmal im Monat bis alle drei Monate subkutan verabreicht und sind so aufgebaut, dass sie den Botenstoff CGRP entweder direkt abfangen oder die Rezeptoren blockieren, an die der Botenstoff andockt“, so Diener. Die Antikörper treten erst dann in Erscheinung, wenn es vor oder während einer Migräneattacke zu einer vermehrten Ausschüttung von CGRP kommt, bei anderen Schmerzen sind sie wirkungslos. Ihr großer Vorteil: ihr sehr gutes Verträglichkeitsprofil. Die vier bisher auf dem Markt befindlichen monoklonalen Antikörper haben keine Nebenwirkungen wie Schwindel oder Müdigkeit, da sie die biologische Barriere zwischen Blutkreislauf und Gehirn nicht überwinden können. Ihr Nachteil: die hohen Kosten, die von der Krankenkasse erst dann übernommen werden, wenn andere Medikamente zur Vorbeugung keine Wirksamkeit zeigen, Nebenwirkungen nicht vertragen werden oder Gegenanzeigen zum Einsatz bestehen. Neue Substanzen, die ebenfalls den CGRP-Rezeptor blockieren und auch in Tablettenform verfügbar sind, könnten in Zukunft auch in der Akuttherapie angewendet werden. „In den USA sind diese Medikamente bereits zugelassen“, so Diener. Allerdings sind auch diese Medikamente mit durchschnittlich rund 100 Euro pro Tablette noch sehr teuer.

QUELLE: CH. LACKNER/THIEME

Kombinierte Therapie

Ziel der vorbeugenden Behandlung ist es, die Migräneattacken zu reduzieren. Eine Kombination mit nicht medikamentösen Therapie zeige dabei die beste Wirkung, so Diener: „Es macht Sinn, eine gründliche Bestandsaufnahme zu machen, was sich im privaten und beruflichen Umfeld möglicherweise ändern ließe, um ein geregelteres und gesünderes Leben zu führen.“ Wer etwa Ausdauersport in seinen Alltag einbaut, unterstützt damit nachweislich eine vorbeugende Wirkung bei Migräne. „Ausdauersport ist bei fast allen chronischen Schmerzen wirksam. Während der sportlichen Betätigung werden Botenstoffe im Körper und Gehirn ausgeschüttet, die sich positiv auf die Stimmungslage auswirken und die Schwelle für die Schmerzwahrnehmung anheben“, erklärt der Experte. Zudem unterdrückt Ausdauersport entzündliche Vorgänge im Körper. Wichtig ist dabei, eine Ausdauertätigkeit zu wählen, bei der die Muskulatur dynamisch gefördert wird – zum Beispiel Joggen, Walking, Radfahren oder Schwimmen –, und diese dann mindestens dreimal in der Woche für jeweils 30 Minuten auszuführen. Auch Entspannungsverfahren zeigen wissenschaftlich nachgewiesene positive Auswirkungen auf die Reduzierung von Migräneattacken. Am besten untersucht ist die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, bei der bestimmte Muskelgruppen in Gesicht, Nacken, Rücken, Bauch, Armen und Beinen nacheinander angespannt und wieder entspannt werden. Wissenschaftliche Nachweise gibt es auch für die Wirkung von Yoga, Tai-Chi, Achtsamkeitstraining und Meditation. Physiotherapie, Stressbewältigungstraining und Ernährungsumstellung können ebenfalls wesentlich dazu beitragen, den Alltag von Migränepatienten zu verbessern. „Wichtig ist dabei auch, dass man seine individuellen Triggerfaktoren kennt – also die Auslöser der Attacken“, so Diener. Häufig sind dies etwa Alkohol, Stress, das Auslassen einer Mahlzeit, Schlafmangel bzw. zu viel Schlaf, Dehydrierung, Hormonumstellungen, Lärm oder Gerüche. Ein Schmerztagebuch könne bei der Analyse dieser Faktoren helfen, so der Migräneexperte, der abschließend eine tröstende Botschaft für alle Migränepatienten hat: „Bei einem Großteil der Betroffenen reduzieren sich die Intensität und Häufigkeit der Attacken im Alter drastisch und verschwinden oft völlig.“ Eine mögliche Erklärung sei, dass die Überaktivität der Hirnrinde mit zunehmendem Alter abnehme.

 

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Prof. Dr. Hans-Christoph Diener

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Text: Claudia Sebunk | Foto: ISTOCK_MASSONSTOCK; TRIAS VERLAG, M. KAISER UK ESSEN/THIEME
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