Wie gefährlich sind Kaliumjodid-Tabletten?
Seit Beginn des Russland-Ukraine-Konflikts wächst auch hierzulande die Angst vor einem Atomunfall. Als vorbeugende Schutzmaßnahme erweitern immer mehr Menschen ihre Hausapotheke um Kaliumjodid-Tabletten. Doch hierbei ist höchste Vorsicht geboten, warnt Assoc. Prof. Dr. Alexander Haug, Stellv. Leiter der Klinischen Abteilung für Nuklearmedizin am Universitätsklinikum AKH Wien. GESUND & LEBEN hat den Facharzt zum Gespräch gebeten.
GESUND & LEBEN: Kaliumjodid-Tabletten sind momentan in aller Munde. Was ist denn prinzipiell der Sinn dieser Präparate?
Assoc. Prof. Dr. Alexander Haug: Kommt es zu einer Havarie eines Kernkraftwerks oder zu einem Atomunfall, werden verschiedene radioaktive Elemente freigesetzt – eines davon ist radioaktives Jod, das für Menschen besonders gefährlich ist. Es wird vom Körper sehr leicht aufgenommen und reichert sich vor allem in der Schilddrüse an. Dort sorgt es für eine hohe Strahlendosis und erhöht das Risiko für die Entwicklung von Schilddrüsenkrebs. Kaliumjodid-Tabletten können, wenn sie rechtzeitig eingenommen werden, die Aufnahme von radioaktivem Jod in der Schilddrüse zu einem großen Anteil verhindern.
Wann spricht man von einer rechtzeitigen Einnahme?
Die Empfehlung lautet, die Tabletten 24 Stunden, spätestens zwölf Stunden vor dem Eintreffen des radioaktiven Jods einzunehmen.
Welche möglichen Gefahren sind mit der Einnahme von Kaliumjodid-Tabletten verbunden?
Generell wird empfohlen, sie nur bis zum 40. Lebensjahr einzunehmen und auch wirklich nur dann, wenn es ausdrücklich von den Behörden empfohlen wird, weil nur dann mit einer signifikanten Belastung radioaktiven Jods gerechnet werden kann. Hohe Dosen von eingenommenem Jodid können bei entsprechender Veranlagung eine manifeste Schilddrüsenüberfunktion auslösen. Diese Veranlagung steigt mit zunehmendem Alter. Hier hat man bei 40 Jahren eine Grenze gezogen, weil man davon ausgeht, dass ab diesem Alter der potenzielle Nutzen den potenziellen Schaden nicht mehr übersteigt.
Eine Schilddrüsenüberfunktion würde dann also den größeren Schaden verursachen?
Eine manifeste Schilddrüsenüberfunktion hat vielfältige negative gesundheitliche Auswirkungen – vor allem, wenn sie sich plötzlich entwickelt. So steigt beispielsweise das Risiko von Herz-Rhythmusstörungen deutlich an, die im schlimmsten Fall auch schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen bis hin zum Tod haben können. Es kann zu Bluthochdruck, zu Herzrasen, sogar zu einer thyreotoxischen Krise und zum Koma kommen, wenn die Schilddrüsenüberfunktion nicht erkannt und entsprechend behandelt wird.
Nun gibt es immer mehr Menschen, die bereits von Vornherein unter einer Schilddrüsenüberfunktion leiden. Was müssen diese Menschen zu Kaliumjodid-Tabletten wissen?
Wenn schon eine Überfunktion besteht, geht man mit der Einnahme der Kaliumjodid-Tabletten das Risiko ein, dass sich diese Überfunktion noch einmal deutlich verschlimmert. Bei einer Überfunktion läuft die Schilddrüse auf Hochtouren – aber es gibt gewisse Faktoren, die ihre Funktion einbremsen. So benötigt die Schilddrüse für die Produktion von Schilddrüsenhormonen relativ hohe Mengen an Jod – viel mehr als man beispielsweise über die Nahrung aufnehmen könnte. Wenn man jedoch Kaliumjodid-Tabletten einnimmt, dann kann die Schilddrüsenhormon-Produktion plötzlich deutlich gesteigert werden und es kann zu den zuvor genannten, gefährlichen gesundheitlichen Folgen kommen.
Was müssen Menschen mit einer Schilddrüsenunterfunktion beachten?
Bei einer Unterfunktion ist das Risiko nicht so hoch, die Krankheitsaktivität kann sich gegebenenfalls verschlechtern. Für andere Formen der Unterfunktionen, beispielsweise nach einer Schilddrüsenoperation, sind hingegen keine negativen Folgen zu erwarten.
Und wie ist das bei der Schilddrüsen-Autoimmunerkrankung Hashimoto-Thyreoiditis?
Gerade Hashimoto ist eine sehr häufige Erkrankung, von der immer mehr junge Frauen betroffen sind – Inzidenz leider steigend. Man weiß auch, dass die Zufuhr von hohen Mengen Jod die Krankheitsaktivität verschlechtern kann. Man muss also auf jeden Fall immer auf persönlicher Ebene Nutzen und Risiken abwägen, selbst im schlimmsten Fall. Dennoch würde man bei einer Hashimoto-Thyreoiditis, wenn es wirklich zu einer signifikanten Belastung mit radioaktivem Jod kommen sollte, die Einnahme von Kaliumjodtabletten sicher trotzdem empfehlen, weil dann der potenzielle Nutzen, nämlich der Schutz der Schilddrüse vor einer Strahlenbelastung, sicherlich höher einzuschätzen ist als das Risiko, dass sich die entzündliche Aktivität im Rahmen der Hashimoto-Thyreoiditis erhöht.
Wie sieht die Anwendungsempfehlung für Menschen mit Schilddrüsenkrebs aus?
Patientinnen und Patienten mit Schilddrüsenkrebs rät man immer sich möglichst jodarm zu ernähren, weil bei Schilddrüsenkarzinomen immer die Option einer Radiojodtherapie im Raum steht, beispielsweise wenn der Krebs schon gestreut hat. Hier ist das Phänomen bekannt, dass die Schilddrüsenkrebszellen das für die Therapie benötigte radioaktive Jod umso besser aufnehmen können, je weniger Jod sie zuvor erhalten haben. Wenn diese Patientinnen und Patienten nun, ohne dass es notwendig wäre, Kaliumjodid-Tabletten einnehmen, verbaut man sich diese Therapieoption für mehrere Wochen bis Monate. Und: Patientinnen und Patienten, deren Schilddrüse operativ entfernt wurde, benötigen keine Kaliumjodid-Prophylaxe, weil somit das Organ, das das radioaktive Jod anreichert, nicht mehr vorhanden ist.
Von Kaliumjodid-Hamsterkäufen raten Sie also ab?
Es ist auf keinen Fall empfehlenswert, sich schon prophylaktisch mit Kaliumjodid-Tabletten einzudecken. Es gibt genügend Vorräte, sodass die Versorgung der Bevölkerung im Notfall durch die Republik Österreich sichergestellt ist. Es ist auch nicht so, dass im Falle eines Falles innerhalb weniger Stunden gehandelt werden muss. Selbst wenn der Wind ungünstig steht und eine radioaktive Wolke tatsächlich Richtung Österreich ziehen sollte, dauert das eine gewisse Zeit – bis dahin vergehen Tage. Mein Appell: Bitte sehen Sie von Hamsterkäufen ab, um nicht einen künstlichen Mangel an diesem prophylaktischen Medikament zu erzeugen!
Text: Michaela Neubauer | Foto: Unsplash, ZVG