Das Buch des Lebens
Erstmals wurde das Genom – und damit die vollständige vererbbare Information des Menschen – zur Gänze sequenziert. Genetiker Markus Hengstschläger erklärt in GESUND & LEBEN, was die Ergebnisse für die Erforschung von Krankheiten bedeuten.
Die Meldung im Jahr 2001 war bahnbrechend: Zum ersten Mal sei es gelungen, das menschliche Genom – die Erbsubstanz eines Menschen – vollständig zu entschlüsseln und den Code zu knacken. Das verkündeten nacheinander das internationale Humanogenomprojekt und der US-amerikanische Biotechnologe Craig Venter, die sich beide an die Mammutaufgabe gemacht hatten. „Es war ohne Zweifel ein Meilenstein in der Geschichte der Wissenschaft und bildete die Basis für unzählige weitere Forschungen“, erklärt Univ.-Prof. Mag. Dr. Markus Hengstschläger, Leiter des Zentrums für Pathobiochemie und Genetik an der Medizinischen Universität Wien. „Es hat viele Jahre gedauert und sehr viel Geld gekostet, zu diesem Ergebnis zu kommen. Wie wir heute wissen, handelte es sich jedoch nur um etwa 92 Prozent der DNA-Sequenz eines Menschen“, so der Genetiker. Mehr sei mit damals zur Verfügung stehenden Methoden nicht möglich gewesen.
Neu entschlüsselte Regionen spielen eine wichtige Rolle.
Erbcode geknackt
Eine Lücke, die eine internationale Forschungsgruppe, das T2T-Konsortium, nun geschlossen und die restlichen acht Prozent des menschlichen Bauplans entziffert hat. Bei der DNA-Sequenzierung wird die Abfolge der vier Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin innerhalb eines DNA-Moleküls festgestellt. Alles, was unsere Zellen einmal produzieren müssen, ist auf diese Weise im Zellkern gespeichert. Die vier DNA-Basen werden jeweils mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt – man erhält also eine lange Liste mit der Abfolge der vier Buchstaben A, T, G und C. Schwierigkeiten bereiteten bisher vor allem DNA-Sequenzen, in denen sich die Grundbausteine oft wiederholten. Die Regionen, die bis vor kurzem noch nicht entschlüsselt werden konnten, lagen vor allem an den zentralen Knotenpunkten der Chromosomen, die für den Ablauf der Zellteilung entscheidend sind. „An diesen sogenannten Centromeren und auch an den Telomeren, den Schutzkappen am Ende der Chromosomen, befinden sich unzählige Wiederholungen in der DNA-Sequenz. Die vor mehr als 20 Jahren zur Verfügung stehenden Methoden unterteilten die DNA in relativ kleine Abschnitte, die dann wieder zusammengesetzt werden mussten“, erläutert Hengstschläger die bisherigen Grenzen der Sequenzierung. Die Rekonstruktion der DNA-Abfolgen auf Basis von solch kurzen DNA-Fragmenten gleicht dem Versuch, ein Puzzle aus tausenden identisch gefärbten Puzzlestücken zusammenzusetzen. Eine Kombination aus zwei neuen Technologien ermöglichte es dem T2T-Konsortium jedoch nun, die DNA in längere Abschnitte zu unterteilen und das menschliche Erbgut des Menschen vollständig aufzuklären. Zum ersten Mal wurde so die DNA aller menschlichen Chromosomen „von Spitze zu Spitze“ (von Telomer zu Telomer, deshalb auch T2T-Konsortium) sequenziert.
Text: Claudia Sebunk | Fotos: Med Uni Wien, istockphoto/ AF-studio
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