Virtuell gegen die Angst

Mithilfe virtueller Realität können Angststörungen – etwa vor Flügen – effizient behandelt werden. Wie das funktioniert, hat GESUND & LEBEN Redakteurin Claudia Sebunk im Selbstversuch ausprobiert.

Sobald sich die Angst bemerkbar macht, hilft die Bauchatmung, sich zu entspannen.

Das Anschnallzeichen erleuchtet. Kurz danach ertönt die Stimme des Piloten mit jener Botschaft, die meinen Herzschlag regelmäßig zum Beschleunigen und meine Muskeln zum Verkrampfen bringt: Turbulenzen stünden bevor, so heißt es aus dem Cockpit und sofort krallen sich meine Finger für vermeintlich besseren Halt in die Armlehnen. Schon fliegen wir durch eine düstere Gewitterwolke und die Flügel des Flugzeuges beginnen bedrohlich zu wackeln. Die ganze Maschine rüttelt es durch und ich halte den Atem an. „Ganz ruhig bleiben“, höre ich nun eine beruhigende Stimme. „Tief in den Bauch atmen und die Muskeln entspannen“, rät sie mir. Während ich den Rat in die Tat umsetze, schaukelt das Flugzeug weiter durch die Luft, aber ich merke, dass mir die beruhigenden Übungen guttun. „Genau das ist das Ziel“, bestätigt Johannes Lanzinger nach dem überstandenen Flug. Lanzinger ist Psychologe, gemeinsam mit ihm sitze ich in seinem Angstzentrum Phobius und stelle mich meiner Flugangst. Statt in hohen Sphären bin ich dabei aber am Boden geblieben, denn Phobius spezialisiert sich auf Angstbekämpfung mittels virtueller Realität.

 

Johannes Lanzinger, M.Sc, Klinischer und Gesundheits- Psychologe, Wien

 

Konfrontation mit der Angst

„Schon seit den 60er-Jahren ist erwiesen, dass Konfrontationstherapie die geeignetste Form ist, um Phobien zu therapieren“, erläutert Lanzinger, der Gründer von Phobius. „Bei dieser Methode stellen sich Betroffene jenen Situationen, vor denen sie Angst haben. Das Ziel: Zu erkennen, dass die Angst unbegründet ist, das Befürchtete nicht eintritt und die Angst nachlässt, wenn man sich ihr aussetzt“, erklärt der Experte. Bei Phobien ist diese Angst anlass-, situations- oder objektbezogen. So geraten Arachnophobiker etwa bei Spinnen in Panik, Betroffene von Akrophobie fürchten sich vor Höhe, Agoraphobiker wiederum haben Angst vor Situationen oder Orten, die das Gefühl erwecken, nicht leicht entkommen zu können sowie im Fall eines Angst- oder Panikanfalls keine Hilfe zu bekommen. Und Menschen mit einer sozialen Phobie fürchten sich vor der prüfenden Bewertung anderer.
Bei meiner Flugangst, so lerne ich, spielen mehrere dieser Phobien eine Rolle. Ihnen möchte ich mich im Angstzentrum stellen. Dazu sind sechs bis acht Sitzungen notwendig, bei der Konfrontationstherapie nimmt Phobius allerdings die virtuelle Realität zuhilfe. „Das hat mehrere Vorteile“, erklärt Lanzinger. „Erstens ermöglicht uns die VR-Brille Erfahrungen, die wir sonst nur schwierig machen können – wie eben Flüge, den Kontakt mit exotischen Tieren oder den Ausflug in schwindelerregende Höhen. Zweitens können wir in der virtuellen Realität Ängste gezielt dosieren“, so der klinische Psychologe. Eine Person mit Höhenangst fährt etwa in einer offenen Gondel an einem Hochhaus von Station zu Station weiter virtuell in die Höhe, jemand mit Spinnenangst wird erst mit kleineren, dann mit größeren Exemplaren der Achtfüßer konfrontiert und ich erlebe zunächst einen ruhigen Flug, bevor sich die Turbulenzen steigern. Dazwischen lernt man, sich bei Angstgefühlen so lange zu entspannen, bis die Furcht nachlässt und schließlich ganz verschwindet.

Schritt für Schritt gegen die Angst

Phobius ist ein Angstzentrum, das sich auf die Behandlung von Angststörungen mit virtueller Realität spezialisiert hat. 25 Angststörungen können auf diese Weise derzeit behandelt werden – Tendenz steigend. „Wir erweitern stetig unser Angebot, neu hinzugekommen sind zum Beispiel die Angst vor Corona“, erläutert Johannes Lanzinger. In diesem Fall und bei anderen Angststörungen wie der sozialen Phobie oder der generalisierten Angststörung kommen Konzepte der kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz. Das Ziel ist bei allen Behandlungen dasselbe: Die Angst zu nehmen und so einen normalen Alltag zu ermöglichen. Denn: Angststörungen können je nach Ausprägung die Lebensqualität massiv einschränken. „Leider gelten mentale Erkrankungen gesellschaftlich immer noch als Tabu. Viele Betroffene leiden daher im Stillen und versuchen, angstbesetzte Situationen zu vermeiden“, weiß Phobius-Gründer Johannes Lanzinger. Sich seiner Angst zu stellen, sei der erste wichtige Schritt. Behandlungen sind auch online möglich.


Text: Claudia Sebunk | Fotos: Ecce Karatas, beigestellt
Mehr zum Thema „Virtuell gegen die Angst” erfahren Sie in GESUND & LEBEN 09/22.

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