„Fakten statt Meinungen“
Niki Popper ist der bekannteste Simulationsforscher Österreichs. Ein Gespräch über den Klimawandel, Covid-19 – und die Grenzen des Vorhersagbaren.
Er hat eine Frisur wie Albert Einstein und das Image des „verrückten Professors“: DI Dr. Nikolas Popper. Der 48-Jährige ist studierter Mathematiker, Hochschullehrer und Unternehmer. Sein Hauptquartier ist die „Drahtwarenhandlung“ in der Nähe der TU Wien. In analogen Zeiten wurden hier tatsächlich Drähte & Co verkauft. Im Zeitalter der Digitalisierung beherbergt sie das Simulationslabor: Mit seinem Team werkt Popper an Modellen für eine bessere Zukunft. Weil die Chefs Genussmenschen sind, ist das Büro zugleich Restaurant – und offen für alle.
Im Oktober 2021 wurde Popper zum „Österreicher des Jahres“ gewählt – in der Kategorie Forschung. „Wir bauen keine Brücken, wir entwickeln keine Impfungen und wir erfinden kein neues Material, das die Welt besser macht. Ich simuliere nur“, schreibt er in seinem gleichnamigen Buch. GESUND & LEBEN traf den Simulanten vom Dienst zum großen Interview.
Seit der Pandemie sind Sie der Erklär-Bär der Nation ...
Moment! So dürfen mich nur meine Kinder nennen. Aber denen darf ich eigentlich eh nix erklären (lacht) ...
Wie gefällt Ihnen die Rolle?
Ich halte es für wichtig, dass Wissenschaft erklärt wird. Vor allem, wenn sie einen großen Einfluss auf unser Leben hat. Eine anstrengende Angelegenheit, weil im öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs etwas Platz gegriffen hat, das für mich gefährlich ist: der Austausch von Meinungen anstelle von Fakten. Daher müssen mein Team und ich unsere Modelle erklären – und ihre Limitierungen. Und: In der Kommunikation ist die geeignete Darstellung für viele unterschiedlichen Zielgruppen wichtig. In Schulen funktioniert das anders als an Universitäten oder bei wissenschaftlichen Konferenzen – eine echte Challenge. Mit meiner kommunikativen Leistung bin ich da nicht immer zufrieden.
Stichwort Wissenschaftskommunikation: Wie erklären Sie einem fünfjährigen Kind die komplexe Welt der Simulationsforschung?
Provokant formuliert: eine einfache Aufgabe. Wir müssen nur verstehen, was um uns herum passiert. Als mein Sohn fünf war, habe ich ihn gefragt: „Da sitzt eine Raupe am Blatt. Was glaubst du, was passiert? Was siehst du?“ Alleine das Beschreiben des Sehenden führt zu einer tieferen Erkenntnis. Für Modellierungen kann ich die Raupe nehmen oder mein Lieblingsbeispiel aus meiner Einführungsvorlesung. Hier sage ich zu meinen Studierenden: „Gehen Sie raus, stellen Sie sich auf eine Kreuzung und schauen Sie sich an, was Sie sehen. Welches Modell würden Sie daraus bauen?“ In der zweiten Stunde kommen alle mit unterschiedlichen Fragen, Informationen und Sichtweisen retour. Das diskutieren wir. Kurz: Verstehe die Welt! Und leite daraus etwas ab! Natürlich ist das völlig absurd und nicht lösbar. Mir geht die Arbeit jedenfalls nicht aus.
Welche Entwicklungen simulieren Sie neben Corona?
Bei uns geht es nicht um ein Alleinstellungsmerkmal, denn alle simulieren: die Autoindustrie in punkto Getriebe und Crash-Tests. Und die Meteorologie das Wetter. Alle Geschichtsinstitute arbeiten mittlerweile mit Data Science und Modellen. Wir gehen dorthin, wo Systeme immer komplizierter und unüberschaubarer werden. Wo es unterschiedliche Komponenten oder Subsysteme gibt. Im Zuge eines Projekts mit der TU Graz sehen wir uns an: Wie interagieren End-Userinnen und -User beim Thema Energie? Und wie könnten mobile Applikationen in punkto Einsparmotivation helfen? In einem anderen Projekt: Wo montiere ich Solarpaneele? Wie verteile ich Energie zwischen verschiedenen Gebäuden, damit wir Spitzen ausgleichen können? Bis zu österreichweiten Vertriebswegen: Wo sind welche Gasspeicher wie gefüllt? Und wie managen wir hierzulande Energie? Weil es keine Standardlösungen gibt, entwickeln wir und andere Forschende Simulationstools, die in zehn bis 20 Jahren Standards sein werden, um die immer kompliziertere Welt abzubilden. Und um so damit umgehen zu können. Sonst sind wir blind. Für die ÖBB entwickeln wir eine Simulation des Güterverkehrs und der notwendigen Ressourcen – wie hängt das Ganze mit dem Personenverkehr zusammen, der jeden von uns betrifft? Im Health System Research sind wir seit 15 Jahren tätig und modellieren mit unserer virtuellen Bevölkerung: Wo besteht welcher Bedarf? Wo gibt es niedergelassene Ärztinnen und Ärzte? Wo Krankenhäuser? Wie wird die Arbeitslast verteilt – regional und in puncto Tätigkeiten? Ob die Ergebnisse unserer Modellierungen Einfluss auf Entscheidungen haben, steht auf einem anderen Blatt.
BUCHTIPP
Niki Popper und Co-Autorin Ursel Nendzig
ICH SIMULIERE NUR!
Von mathematischen Modellen, virtuellen Muttermalen und dem Versuch, die Welt zu verstehen.
Amalthea Signum, 26,– Euro
„Wir bauen keine Brücken, wir entwickeln keine Impfungen und wir erfinden kein neues Material, das die Welt besser macht. Ich simuliere nur.“
Text: Karin Lehner | Fotos: Stefan Knittel
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