Länger leben dank Genen?
Gesundheitsrisiken frühzeitig erkennen und zielsicher dagegen vorgehen – mithilfe der genomischen Medizin könnte das bald Normalität sein.
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie machen zuhause einen Speicheltest und lassen diesen auswerten. Doch anstatt zu erfahren, ob Sie etwa an einer Covid-Infektion leiden, erhalten Sie Ihr komplettes genetisches Profil. So finden Sie beispielsweise heraus, ob Sie ein erhöhtes Risiko für eine Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankung aufweisen oder welche Medikamente für Sie geeignet beziehungsweise ungeeignet sind.
Klingt nach Science Fiction oder weit entfernter Zukunftsmusik? Ist es aber nicht. Denn die genomische Medizin wird bereits heute praktiziert – und ermöglicht eine noch nie zuvor dagewesene Individualität in der Prävention und Behandlung von Krankheiten.
Versorgungslücken schließen
Als die Schauspielerin Angelina Jolie 2013 verkündete, dass sie sich als Reaktion auf eine Genanalyse, die ein erblich bedingtes, erhöhtes Brustkrebsrisiko offenbarte, vorsorglich beide Brüste sowie die Eierstöcke entfernen ließ, war das mediale und öffentliche Interesse groß. Während bei der Schauspielerin eine Mutation des Gens BRCA1 vorlag, bedeutet auch eine Mutation des Gens BRCA2 ein deutliches Krebsrisiko – doch auch andere Gene können in Zusammenhang mit verschiedenen Krebsformen stehen. Priv.-Doz. Dr. Stefan Wöhrer, PhD, Facharzt für Innere Medizin, Onkologie und Hämatologie, wendet die Genomanalyse seit einigen Jahren selbst in seiner Praxis an: „Unsere Gene bilden zu einem großen Teil die Voraussetzung dafür, wie wir uns entwickeln. Sie schaffen die Veranlagungen für bestimmte Erkrankungen, doch in den meisten Fällen entscheidet unser Lebensstil, ob diese tatsächlich ausbrechen.“
Während es früher lediglich möglich war, bei Bekanntheit einer bestimmten erblichen Veranlagung einzelne Gene zu untersuchen, kann mittlerweile ein vollständiges genetisches Profil erstellt werden. „In Genanalysen steckt eine unfassbar große Fülle an Information. Die Ergebnisse sind jedoch nie schwarz oder weiß – es sind lediglich Wahrscheinlichkeiten, mit deren Hilfe es möglich ist, Krankheiten besser vorherzusagen. Die Aufgabe von Medizinerinnen und Medizinern ist es dann, sich auf jene Informationen zu konzentrieren, die relevant für die Patientin oder den Patienten sind. Und im besten Fall sind das jene Informationen, die man zum Positiven verändern kann“, erklärt Wöhrer. So seien – wie im Fall von Angelina Jolie – Hinweise auf ein stark erhöhtes Brustkrebsrisiko ein besonders hilfreiches Resultat der Gentests: „Durch frühzeitiges Reagieren kann der Ausbruch dieser Krebserkrankung verhindert werden. Darüber hinaus werden auch jüngere Frauen auf ihr Risiko und die Notwendigkeit engmaschiger Vorsorgeuntersuchungen aufmerksam, die ansonsten möglicherweise durch das Versorgungsnetz fallen würden. Denn Mammografien werden erst ab 40 Jahren von der Krankenkasse übernommen, viele vorbelastete Frauen erkranken aber bereits ab Mitte 30 oder sogar noch früher an Brustkrebs.“ Ein ähnliches Beispiel ist der erbliche Dickdarmkrebs. Je nach Höhe des individuellen Erkrankungsrisikos, das im Zuge der Genanalyse festgestellt wird, kann die Ärztin oder der Arzt den Beginn der Früherkennungsuntersuchungen festlegen und auch bestimmen, in welchen Abständen diese durchgeführt werden sollten.
„Unsere Gene bilden zu einem großen Teil die Voraussetzung dafür, wie wir uns entwickeln. Sie schaffen die Veranlagungen für bestimmte Erkrankungen, doch in den meisten Fällen entscheidet unser Lebensstil, ob diese tatsächlich ausbrechen.“
Bewusster leben
Neben dem Vorhersagen von Tumorerkrankungen kann mithilfe von Gentests auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten polygenetischer Krankheiten berechnet werden. In diese Kategorien fallen beispielsweise Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder koronare Herzerkrankungen. Sie werden durch eine Vielzahl an Mutationen im Genom ausgelöst. „Wenn man weiß, dass hier eine genetische Veranlagung besteht, kann man seinen Lebensstil entsprechend anpassen und beispielsweise darauf achten, dass Blutdruck und Blutfette gut eingestellt sind oder dass man bei einer Neigung zu Leberkrankheiten auf Alkohol verzichtet“, sagt Wöhrer. Letztendlich müsse man jedoch immer gemeinsam mit der Patientin beziehungsweise dem Patienten abwiegen, welche Informationen man aus der Genanalyse schöpfen will. „Gerade das Wissen über Krankheiten, gegen die man kaum etwas tun kann, wie Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Alzheimer, können wie ein Damoklesschwert über dem Betroffenen schweben und viel Unsicherheit und Verängstigung stiften. Hier sollte man im Vorfeld genau überlegen, ob das wirklich Informationen sind, die man mitgeteilt haben möchte oder ob man sich lieber nur auf jene konzentrieren will, gegen die man aktiv etwas tun kann“, betont Wöhrer. Trotzdem ist der Arzt vom Nutzen der Genanalysen überzeugt: „In Summe gesehen kommt es häufig vor, dass man das Leben der Patientinnen und Patienten damit zum Besseren verändern kann. Und davon profitieren auch unser Gesundheitssystem und die Wirtschaft.“
Welches Medikament passt zu mir?
Doch nicht nur in der Diagnostik spielen Genanalysen eine immer wichtigere Rolle, sondern auch in der Therapie. Die sogenannte Pharmakogenetik befasst sich mit dem Zusammenhang einzelner Genvariationen mit der Wirksamkeit beziehungsweise Toxizität bestimmter Medikamente. „Es gibt einige Medikamente, die unabhängig von den Genen verarbeitet werden. Von anderen Arzneimitteln, beispielsweise bestimmten Blutverdünnern, welche die Entstehung von Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindern sollen, wissen wir jedoch, dass eine relativ große Gruppe von Menschen nicht darauf anspricht“, erläutert Wöhrer. Abgesehen von Genanalysen gebe es noch keinen anderen klinischen Test, um herauszufinden, ob Personen „Nonresponder“ auf verschiedene Medikamente sind, erläutert der Mediziner: „Das einzige klinische Merkmal ist, wenn bei den Patientinnen oder Patienten trotz Einnahme des Präparats noch einmal ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall eintritt.“ Während in Deutschland oder Amerika aber bereits auf dem Beipackzettel dieser Medikamente die Durchführung einer genetischen Analyse vor der Einnahme empfohlen wird, ist das in Österreich bislang noch nicht der Fall. Auch bei Statinen, die oft als Cholesterinsenker eingesetzt werden, sei ein Gentest eine wichtige Maßnahme, um schwerwiegende Nebenwirkungen wie die Muskelauflösung zu verhindern, meint Wöhrer: „Passt ein Statin nicht zu den persönlichen Stoffwechseleigenschaften, kann es möglicherweise verstärkt Nebenwirkungen verursachen. Durch eine Genanalyse kann die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt feststellen, welches Statin sich zur Therapie am besten eignet.“
Text: Michaela Neubauer | Fotos: iStock_ Evgenii Kovalev; Permedio
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