Ein Leben lang verbunden
Die Beziehung zu den eigenen Geschwistern ist unkündbar, manchmal kompliziert und konfliktreich und für viele Menschen eine wertvolle Ressource im Leben. Wie sie sich gestaltet, hängt stark von den Eltern ab.
Nehmen wir Hänsel und Gretel. Schwester und Bruder aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Kein geborgenes Zuhause, von den Eltern im Wald ausgesetzt, eingesperrt im Pfefferkuchenhaus. Was sie rettet? Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, allen Widrigkeiten zum Trotz. Und reagieren damit so, wie es Geschwister häufig tun, wenn sie von denen im Stich gelassen werden, die sich eigentlich um sie kümmern sollten. So zeigen es wissenschaftliche Untersuchungen: „Wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen, führt das sehr oft dazu, dass sich die Kinder gegenseitig unterstützen und einander sehr nahestehen“, sagt der Erziehungswissenschafter und Geschwisterforscher Stephan Sting. Auch in weniger dramatischen Lebenslagen lasse sich Ähnliches beobachten, etwa dann, wenn Eltern sich trennen: Es komme zwar vor, dass sich ein Kind mit einem Elternteil verbündet, das andere mit dem anderen. Viel häufiger sei allerdings, dass sich die Geschwister zusammentun und die fehlende Aufmerksamkeit der Eltern kompensieren.
Training für soziale Kompetenzen
Lange hat man sich in der Forschung auf die Vorteile des Einzelkind-Daseins konzentriert, sagt Stephan Sting. Lebt es sich als Einzelkind tatsächlich besser, weil man die gesamte elterliche Aufmerksamkeit genießt und sich mit niemandem um das letzte Stück Kuchen streiten muss? „Auch wenn Geschwisterbeziehungen durchaus ambivalent wahrgenommen werden, geht man prinzipiell davon aus, dass sie eine Ressource darstellen.“ Gleichzeitig sei wahr: „Geschwisterbeziehungen sind die konfliktreichsten Beziehungen überhaupt. Sie sind deswegen aber auch ein Trainingsfeld für soziale Kompetenzen.“ Seine Geschwister kann man sich – anders als die Freunde – nicht aussuchen. „Geschwisterbeziehungen sind nicht freiwillig, auch nicht kündbar“, sagt Sting. „Selbst Geschwister, die sich auseinanderleben oder den Kontakt abbrechen, kommen oft irgendwann doch wieder zusammen, etwa wenn die Eltern krank werden oder sterben.“
BUCHTIPP
Danielle Graf, Katja Seide
Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten.
Das Geschwisterbuch
ISBN 978-3-407-86578-6
Text: Sandra Lobnig | Fotos: iStock_urbazon, Privat, beigestellt
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