„Wir werden einmal so ALT wie der Grönlandwal!“
Möglichst lange und gesund zu leben – das wünschen wir uns alle. Wie es gelingen könnte und was wir von Fauna, Flora und Forschung lernen können, erklärt der Molekularbiologe Nicklas Brendborg in GESUND & LEBEN. Außerdem erfahren Sie, warum wir uns das stressige Leben des Nacktmulls zum Vorbild nehmen und auf die Abwehrmechanismen von Pflanzen setzen sollten.
Vermutlich haben Sie noch nie von Turritopsis gehört. Das könnte daran liegen, dass diese Quallenart nur etwa Fingernagelgröße erreicht und auch sonst ein vergleichsweise langweiliges Leben führt. Fühlt sich Turritopsis bedroht, passiert jedoch etwas Sonderbares: Sie entwickelt sich in ihr Polypenstadium zurück. Ist die Gefahr gebannt, wächst sie neu heran. Auch der Plattwurm Planaria hat einiges zu bieten: Bei Nahrungsknappheit beginnt er, sich selbst zu fressen, bis bessere Zeiten kommen. Dann regeneriert er sich wieder und beginnt sein Leben von vorne. Ins Zentrum seiner Forschungen stellt der dänische Molekularbiologe Nicklas Brendborg die Frage, wie ein langes und gesundes Leben gelingen kann. „Leider besitzen wir noch nicht die Anti-Aging-Tricks der Quallen, Bakterien und Würmer“, so Brendborg im Gespräch mit GESUND & LEBEN. „Aber ich bin mir sicher, dass wir einmal so alt wie der Grönlandwal werden können.“ Und das sind immerhin 190 Jahre. „In der Biologie gilt die Faustregel: Je dichter wir mit einem Tier verwandt sind, desto mehr können wir von ihm über uns lernen. Im Hinblick auf den Wal sind das gute Nachrichten, denn Säugetiere sind unsere nächsten Verwandten, und das Beispiel dieses Tieres beweist, dass wir vom biologischen Standpunkt aus noch viel älter werden könnten, als es derzeit der Fall ist.“
Anti-Aging-Star Nacktmull
Ein Shootingstar im Anti-Aging-Bereich hat in den letzten Jahren besonders von sich reden gemacht: Der Nacktmull lebt im Osten Afrikas und flitzt in Tunneln unter der Erde herum, die er selbst gegraben hat. Seine Schneidezähne sitzen außerhalb des Mundes, seine Augen sind klitzekleine Pünktchen, die Haut rot und faltig. Und doch bricht dieses 35 Gramm leichte Tierchen das Gesetz des Alterns, das besagt, je größer ein Lebewesen ist, desto länger lebt es. Der Nacktmull ist klein, wird aber mit durchschnittlich 30 Jahren sehr alt. „Im Vergleich dazu leben die artverwandten Mäuse höchstens ein paar Jahre.“ Ein Erfolgsrezept des kleinen Tieres ist seine Fähigkeit, mit oxidativem Stress umgehen zu können. „Wenn Nacktmulle mit DNA-schädlichen Chemikalien, Schwermetallen oder hohen Temperaturen in Kontakt kommen, vertragen sie das besser als Mäuse. Sie gehen Problemen nicht aus dem Weg, sondern bewältigen sie“, erklärt Brendborg. „Dieses Wissen können wir auch für uns nutzen – eine gewisse Art von Stress stärkt unsere Gesundheit.“ Das Phänomen, das besagt, dass Herausforderungen, Stress oder Schäden uns stärker machen können, nennt man Hormesis. „Nutzen lässt sich das für den Menschen auf ganz einfache Weise“, erläutert Brendborg: „Zum Beispiel durch Sport. Wenn wir uns sportlich anstrengen, steigen zunächst der Blutdruck und der Blutzuckergehalt. Die körperliche Belastung verursacht kurzzeitig Entzündungen, und der angeregte Stoffwechsel sorgt für erhöhten oxidativen Stress“, so der Molekularbiologe. „Die vorteilhaften Anpassungen stellen sich aber während der Erholungsphase ein. Wir passen uns an den Stress, den die sportliche Aktivität hervorruft, an, indem wir widerstandsfähiger werden.“
Gesundes Gift, gut dosiert
Eine weitere Möglichkeit, um Hormesis nutzbar zu machen, ist die Ernährung. Hervorragend eignen sich dafür etwa Pflanzen, die sich auf diversen Wegen gegen Fressfeinde wappnen und dadurch zum Beispiel für viele Tiere ungenießbar, reizverursachend, krankheitserregend bis hin zu giftig sein können, für uns aber einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben – wie etwa die Chilipflanze. „Ursprünglich hatte das in der Pflanze enthaltene Capsaicin die Funktion, Tiere vom Fressen der Chilifrucht abzuhalten“, so Brendborg. „Auf uns Menschen hat es einen ähnlich giftigen Effekt – aber es birgt auch verschiedene gesundheitliche Vorzüge.“ So wirkt Capsaicin wissenschaftlich nachgewiesen chronisch-entzündlichen Krankheiten entgegen, ist durchblutungsfördernd und schützt die Leber vor Schäden. Ganz oben auf der Liste stehen auch jene Obst- und Gemüsesorten, die Polyphenole enthalten, wie etwa Grünkohl, Weizenvollkorn oder frisches Beerenobst. „Wenn wir Polyphenole zu uns nehmen, versucht unser Körper, sie sofort wieder loszuwerden. Er aktiviert zum Beispiel ein Gen namens NRF2, das eine ganze Reihe an Verteidigungsmechanismen in der Zelle steuert“, erklärt Brendborg. „Die giftigen Pflanzenstoffe führen in kleinen Mengen zu gesundheitlichen Vorteilen für uns. Die Abwehrmechanismen werden hochgefahren und wir werden nicht nur widerstandsfähiger gegenüber den giftigen Stoffen, sondern auch gegenüber allem möglichen anderen.“
Starke Müllabfuhr der Zellen
Erinnern Sie sich noch an den Plattwurm Planaria, den wir zu Anfang dieses Artikels vorgestellt haben und der die Fähigkeit besitzt, sich bei Nahrungsknappheit selbst zu verzehren? So weit sind wir Menschen (noch) nicht, einen ähnlichen Prozess können aber auch wir nutzen und fördern, um gesund zu altern: Autophagie. Übersetzt bedeutet der Fachbegriff ebenfalls sich „selbst essen – in diesem Fall essen unsere Zellen die beschädigten Teile von sich selbst. „Autophagie können wir uns als Müllabfuhr der Zellen vorstellen“, so Brendborg. „Diese Zellenmüllabfuhr wird gebraucht, denn unsere Zellen werden ständig beschädigt. Werden diese defekten Moleküle und Organellen nicht entsorgt, ist das ein sicherer Weg, nicht viel länger am Leben zu bleiben.“ Sie ahnen schon, wer auch in puncto Autophagie besonders gut ist? Genau – der Nacktmull. Forscherteams, die Zellen von Nacktmullen und Mäusen jeweils in Kulturen herangezüchtet haben, konnten feststellen, dass in Nacktmullzellen wesentlich mehr Autophagie auftritt als in den Zellen von Mäusen. Je besser wir unsere zelluläre Müllabfuhr auf Trab halten, umso besser gelingt uns der Kampf gegen das Altern. Gelingen kann das unter anderem mit Spermidin. „Aus Studien an Mäusen wissen wir, dass zusätzliches Spermidin das Leben von Säugetieren verlängern kann. Die Spermidinmenge in unserem Gewebe nimmt zwar mit steigendem Alter ab, aber wir können es vermehrt über die Nahrung aufnehmen“, so der Autor. Top-Spermidin-Lieferanten sind unter anderem Weizenkeime, Sojabohnen, Getreidealternative Amaranth, Mais, Karfiol und Brokkoli.
Anti-Aging-Zone
Auf der Suche nach den Anti-Aging-Geheimnissen der Natur fand Brendborg nicht nur Vorbilder in der Pflanzen- und Tierwelt – manchmal ist auch der Boden, auf dem wir leben, des Rätsels Lösung für gesundes Altern. Sofern sich dieser in einer der sogenannten „Blue Zones“ befindet. „National Geographic“-Autor Dan Buettner prägte diesen Begriff 2005 für Regionen der Welt, in denen Menschen viel länger als der Durchschnitt leben sollen: Okinawa in Japan, die italienische Insel Sardinien, die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica, das griechische Ikaria und in Loma Linda in Kalifornien. „Nach zahlreichen Studien war klar, dass die Gene der Einwohner keine hinreichende Erklärung für ihre höhere Lebenserwartung lieferten“, so Brendborg. „Buettner kam zu dem Schluss, dass es etwas mit der Lebenskultur zu tun haben muss, und fasste zusammen, dass die Bewohner der Zonen starke soziale Bande haben, sich gesund ernähren, sehr aktiv sind und ein für sie sinnerfülltes Leben führen.“
Nicklas Brendborg
QUALLEN ALTERN RÜCKWÄRTS
Eichborn, 2022
22,70 Euro
Autor Nicklas Brendborg verrät seine persönlichen Top-Ten-Regeln für ein möglichst langes und gesundes Leben. Gesunder Stress durch Sport: „Wichtig ist, Ausdauer und Kraft zu trainieren“, so Brendborg. Muskeln machen robust und wirken sich positiv auf den Stoffwechsel aus, gleichzeitig werden die Knochen gestärkt – ein wichtiger Schutz vor Osteoporose!
Werden Sie Blutspender:
Wird regelmäßig Blut abgenommen, bildet der Körper dieses in den folgenden Wochen nach. „Schon nach einer einzigen Blutspende justiert der Körper eine Reihe seiner Verteidigungsmechanismen neu, was ihn widerstandsfähiger gegen Stress macht“, erklärt Brendborg.
Auf den Zahn gefühlt:
Entzündungen des Mundraums gehen mit vielen Krankheiten einher, unter anderem mit einem erhöhten Risiko für Alzheimer und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Einer der besten Anti-Aging-Tricks überhaupt: Benutzen Sie bitte täglich Zahnseide!“, appelliert der Autor.
Denken Sie sich jung:
Optimisten leben länger! „Studien belegen auch, dass Menschen, die sich jünger fühlen, als sie in Wahrheit sind, tendenziell auch länger leben“, so der Autor.
Pflegen Sie Kontakte:
Soziale Beziehungen sind wichtig für unsere mentale Gesundheit – und die ist für ein langes Leben genauso ausschlaggebend wie die körperliche. „Im Gegensatz dazu zählt Einsamkeit tatsächlich zu den am stärksten mit einem frühen Tod in Verbindung stehenden Faktoren“, so Brendborg.
Es ergibt alles Sinn:
„Zahlreiche Forschungsergebnisse belegen: Lang lebende Menschen sehen einen starken Sinn in ihrem Leben“, erläutert Brendborg. Ihrem Leben Sinn verleihen können Sie auch schon mit kleinen Dingen, wie etwa für Freunde zu kochen, alleinstehende Menschen zu besuchen oder sich um ein Tier zu kümmern.
Wer rastet, rostet:
„Studien belegen, dass Menschen, die besonders alt werden, häufig auch in ihrer Pension noch engagiert bleiben – selbst zu einem Zeitpunkt, wo sich diese Dinge nur noch auf ‚‚jeden Sonntag für meine Enkel kochen‘ oder‚‚jeden Tag die Treppe kehren‘ beschränken.
Nicht rasten, fasten!
„Nicht nur aus Experimenten mit Mäusen wissen wir, dass Fasten eine Art von Hormesis ist – ein Stressfaktor für unseren Körper, der uns letzten Endes stärker macht“, so Brendborg.
Nicht zu viel um gesundes Essen sorgen:
Der Autor rät, sich auch mal kleine Sünden zu erlauben – und vor allem, sie zu genießen. Auf ein Laster aber bitte wirklich verzichten: Rauchen!
Nützen Sie die Erkenntnisse der Wissenschaft!
„Leider sehen wir im Moment wieder einen Rückgang der Impfbereitschaft“, so der Molekularbiologe. „Doch Impfungen sind wichtig und schützen vor schweren Erkrankungen. Bitte nützen Sie diese, gerade auch in Zeiten einer Pandemie“, so Brendborgs Appell.
Kleine Sünden gehören zu einem gesunden und langen Leben dazu!
Text: Claudia Sebunk | Fotos: ISTOCK_LINDSAY_IMAGERY; LES KANER; ISTOCK_ FLOORTJE_ SYNERGEE