Schluss mit Tabus: Warum psychische Erkrankungen nicht stigmatisiert werden sollten

Obwohl psychische Erkrankungen weit verbreitet sind, begegnen Betroffene immer noch negativen Stereotypen und Vorurteilen. GESUND & LEBEN hat mit einigen über ihre Erfahrungen gesprochen.

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Psychische Krankheiten haben in Österreich eine ernstzunehmende Dimension. „Einer aktuellen Untersuchung zufolge leiden etwa 25 bis 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung innerhalb eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung“, erklärt Dr. Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien.

Trotz der markanten Zahlen sind Betroffene gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt und werden stigmatisiert.

„So wird psychisch Kranken oft unterstellt, schwach, faul, gewalttätig oder gefährlich zu sein. Zusätzlich wirkt die Medienberichterstattung als Stigma-Turbo. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Urheber von Terror und brutalen Gewalthandlungen ohne jeden Anlass dafür mit psychischen Krankheiten wie Psychosen, Schizophrenie oder bipolaren Erkrankungen in Verbindung gebracht werden“, betont der Psychiater.

 

Benachteiligung psychisch Erkrankter

Negative gesellschaftliche Vorstellungen können nicht nur seelisch verletzen, sondern alle Bereiche des Lebens negativ beeinflussen und damit Lebenschancen reduzieren.

„Durch Stigmatisierung und Diskriminierung werden Menschen mit psychischen Erkrankungen benachteiligt – im Kontakt mit anderen, am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche. Betroffene erfahren auch andere Ablehnung, von Nachbarn, von Arbeitskollegen, von Freunden und Bekannten, letztlich auch von Verwandten“, erläutert Psota im Buch „Psyche und Stigma“.


Die Angst vor Abwertung, Benachteiligung und gesellschaftlicher Ausgrenzung bringt psychisch Kranke oft dazu, den eigenen Zustand zu verstecken und sich sozial zu isolieren.


„Die Betroffenen schließen sich selbst aus, um keine Kränkungen zu erleben. Indem sie die negativen gesellschaftlichen Urteile über Menschen mit einer psychischen Erkrankung übernehmen, stigmatisieren sie sich selbst“, sagt Psota.

Die von Gefühlen wie Schuld und Scham begleitete Selbststigmatisierung führe zudem in vielen Fällen zu einem verspäteten Behandlungsbeginn.

 

Vom Berufsalltag zum Burnout

Für Christine Reinhardt sollte es ein ganz normaler Arbeitstag werden, aber plötzlich ging gar nichts mehr. Vor fünfzehn Jahren wollte die Angestellte eines großen amerikanischen Unternehmens frühmorgens auf dem Firmengelände parken. Nur schaffte es die damals 37-Jährige an diesem Tag nicht mehr, aus dem Auto zu steigen und wie gewohnt das Bürogebäude zu betreten.

„Ich bin im Auto gesessen und konnte nicht mehr aufhören, zu weinen. In diesem Moment wusste ich, dass ich diesen Arbeitstag nicht mehr schaffen kann. Ich bin nach Hause gefahren und habe mich krankgemeldet“, erinnert sich Reinhardt.

Schon viele Monate zuvor machten sich erste Symptome bemerkbar:

„Der Leistungsdruck im Unternehmen war sehr hoch. Es fielen immer mehr Kolleginnen aus, weil sie dem Druck nicht mehr standhielten. Ich hatte dann noch mehr zu tun und wurde immer erschöpfter. Zuletzt war die Arbeit für mich kaum noch bewältigbar.“

Die Wienerin wurde immer bedrückter, zog sich zunehmend von den Arbeitskollegen zurück, gesellte sich kaum noch zu Kaffeepausen. Den negativen Höhepunkt dieses Lebensabschnitts hat sie noch gut im Gedächtnis:

„Ich sollte Statistiken zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeben. Wegen meines schlechten psychischen Zustands blieb die Arbeit unerledigt. Die Statistiken ließ ich einfach in den Papierkorb wandern. Das war mir dann wahnsinnig peinlich. Ich behauptete, sie gar nicht erhalten zu haben.“

Für die Beschreibung des quälenden Zustands von Erschöpfung und Kraftlosigkeit greift die nun 52-Jährige zu einem bildhaften Vergleich:

„Man versucht, seinen gewohnten Weg zu gehen. Nur fühlt sich plötzlich alles schwer an. Die Beine sind schwer wie Blei und man kann keinen Schritt mehr nach dem anderen machen.“


Zu Ein- und Durchschlafproblemen kamen nächtliche Panikattacken:

„Es gab durchwachte Nächte, in denen ich erst nach vielen Stunden zur Ruhe kam. Dann riss mich eine Panikattacke aus dem Schlaf. Ich schwitzte und das Herz raste. Eine heiße Welle stieg in meinem Körper von unten nach oben auf. Es war so, als ob mir die Luft abgeschnürt würde. Ich dachte, ich muss sterben.“


Christine Reinhardt suchte Hilfe bei einer Ärztin. Schlafmedikamente und Antidepressiva halfen ihr über die schwerste Phase hinweg. Eine Psychotherapeutin bestätigte die Verdachtsdiagnose Burnout-Syndrom bzw. Erschöpfungsdepression. Die Wienerin kündigte ihren Job, begann eine Gesprächstherapie und besuchte eine Selbsthilfegruppe des Vereins „pro mente“, in dem sie heute als Fachbereichsleiterin arbeitet. 

 
 

Text: Jacqueline Kacetl


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