Ein Herz für Leonie

Für Dominik und Miriam beginnt ein Albtraum, als bei ihrer Tochter eine Herzkrankheit diagnostiziert wird. Doch sie halten zusammen – und finden einen Weg.

Wenn Leonie* heute lacht, ihre Arme in die Luft wirbelt und vergnügt quietscht, ist es für ihre Eltern Dominik* und Miriam* das schönste Geschenk der Welt. „Diese Lebensfreude macht uns so stolz. Und dass sie, trotz der langen Zeit im Krankenhaus, heute überhaupt keine Entwicklungsdefizite und körperlichen Einschränkungen hat.“
Leonie kommt inmitten des zweiten Corona-Lockdowns zur Welt. Ihre Eltern, beide jung, sportlich und in keinster Weise erblich vorbelastet, entschließen sich für eine Geburt im Geburtshaus. „Die vielen pränatalen Zusatzuntersuchungen wären in unserem Fall gar nicht notwendig gewesen, haben die Hebammen gesagt. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass irgendetwas nicht der Norm entspricht. Wir haben uns trotzdem dazu entschieden – und auch nach der Geburt keine Untersuchung ausgelassen. Alles ohne Befund. Später wurde uns dann erklärt, dass ein Krankheitsbild wie Leonies häufig erst später in Erscheinung tritt, weil es die Kinder bis zu einem gewissen Punkt so gut kompensieren können. So war es auch bei uns“, erinnert sich Miriam. 
Leonie ist sieben Wochen alt, als ihre Eltern merken, dass etwas nicht stimmt. Sie wirkt matt, müde und blass, atmet schnell, aber die Kinderärztin kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Fünf Tage später – die Familie will gerade zur Geburtstagsfeier eines Freundes aufbrechen, der Kuchen steht bereit, das Auto ist bepackt – beginnt Leonie plötzlich zu brüllen. „Dieses lebensbedrohliche Schreien – so etwas haben wir noch nie gehört. Und sie war so kalt. Ich habe Fieber gemessen, sie hatte nur noch 35 Grad Körpertemperatur und einen Blaustich“, erinnert sich Dominik an den ersten von vielen furchteinflößenden Momenten zurück. Die Eltern handeln sofort, springen ins Auto und fahren mit Leonie in das nahegelegene Landesklinikum Mödling.

„Die Maschinen, die vielen Schläuche und Kabeln. Und unsere Tochter mittendrin.”

Jede Minute zählt
Dort angekommen, wird Leonies Sauerstoffsättigung untersucht. Alles in Ordnung, meint die Ärztin – bis auf die marmorierte Haut, die komme ihr komisch vor. Sie ruft den Oberarzt, der einen Ultraschall macht. Leonie ist aufgeregt, nur mit Mühe und Not gelingt es, sie zu untersuchen. Nach zehn Minuten kann das Mädchen nicht mehr, beginnt, sich zu übergeben. „Ich habe etwas gesehen“, meint der Arzt. „Die linke Herzkammer ist vergrößert.“ Eine Blutuntersuchung folgt. Leonie brüllt, atmet immer schneller und läuft plötzlich blau an. „Es war furchtbar – der Oberarzt hat nur noch gesagt, wir sollen ihm hinterherlaufen und dann sind wir auf die Intensivstation gerannt“, erzählt Dominik. „Dort hat sich die Situation zwar etwas entspannt, doch als der Arzt gesagt hat, dass nun der Hubschrauber kommen und Leonie ins Wiener AKH bringen wird, wussten wir, wie kritisch die Situation ist.“ Dass der Oberarzt so reagiert hat, sagt Miriam, war ihr großes Glück. Die Diagnose lautet: dilatative Kardiomyopathie, die häufigste Form der Herzmuskelerkrankung. Pro 100.000 Personen treten jährlich etwa zwei bis drei Neuerkrankungen auf. Eine oder beide Herzkammern sind dabei massiv vergrößert und haben eine eingeschränkte Pumpfunktion. Die Ursachen sind entweder nicht bekannt, vererbt, durch einen Virus oder Giftstoffe ausgelöst oder entstehen aufgrund einer anderen Erkrankung, zum Beispiel der koronaren Herzkrankheit oder eines Herzklappenfehlers.

Es wird ein Marathon
„Wir waren wie in einer Schockstarre. Vor allem, weil wir uns nach sieben Wochen gerade ans Elternsein gewöhnt und einen Rhythmus gefunden haben, wir uns so darauf gefreut haben, mit Leonie Ausflüge zu unternehmen und ihr die Welt zu zeigen. Und plötzlich war alles anders“, sagt Dominik.
Im AKH kommt Leonie auf die Semi-Intensiv-Station der Kinderkardiologie, wo weitere Tests gemacht werden. Zunächst wird versucht, Leonies Erkrankung mit Medikamenten zu behandeln. „Kurz hat es gut ausgeschaut, die Medikamente haben gewirkt und uns wurde gesagt, wenn es so weitergeht, können wir in zwei Wochen das Krankenhaus verlassen“, sagt Miriam. Doch schnell wird klar, dass es nicht bei den zwei Wochen bleiben wird. „Die Ärztinnen und Ärzte haben uns gesagt, dass es ein langer Weg wird – ein Marathon. Dass wir unsere Kräfte gut einteilen sollen. Der wichtigste Tipp: Jede Woche sollten wir uns einen Abend nur für uns nehmen, um kurzzeitig auf andere Gedanken zu kommen“, erzählt Miriam.
In der dritten Woche geht es Leonie schlechter. Ihr Herz kann nicht genug Blut zum Magen pumpen, die Verdauung schmerzt und die Nahrung muss reduziert werden. „Jedes Mal, wenn sie begonnen hat zu weinen und ihr Puls auf über 200 gestiegen ist, habe ich so große Panik bekommen. Ich musste teils aus dem Zimmer gehen, weil ich es nicht ausgehalten habe – weil ich dachte, ihr Herz setzt aus“, sagt Dominik. 
Ein paar Tage später kommt es zu einer weiteren Krise: Den Eltern fällt auf, dass ihrer Tochter das Atmen immer schwerer fällt. Als das Mädchen untersucht wird, wird plötzlich der Herzalarm ausgelöst. Dann wurde Leonie auf die Intensivstation gebracht, erinnert sich Miriam: „Das war wirklich der schlimmste Moment meines ganzen Lebens. Die Maschinen, die vielen Schläuche und Kabel. Und unsere Tochter mittendrin.“ Von Psychologinnen und Psychologen erhalten die beiden Unterstützung. „In so einer Situation muss man einfach jede Hilfe annehmen. Jede – auch von Freunden und Familie. Egal, ob es ein Kaffee ist, fünf Minuten frische Luft oder einfach jemand zum Reden. Denn man lebt nur von Reserven und die sind so schnell aufgebraucht.“

Ein neues Herz
Da eine konservative Therapie mit Medikamenten nicht mehr ausreicht, um Leonies Herz langfristig zu stabilisieren, wird klar, dass das Mädchen eine Herztransplantation braucht. „Bevor das alles passiert ist, haben wir uns viele Gedanken darüber gemacht, ob alle Eingriffe, Untersuchungen und Therapien ethisch vertretbar sind und ob wirklich eine realistische Chance besteht, dass es Leonie gut gehen wird oder ob es nur ein langer Leidensweg für sie ist, den wir ihr zumuten, weil wir an ihrem Leben hängen. Aber jede einzelne Ärztin und jeder einzelne Arzt hat uns versichert, dass es eine große Chance ist“, erklärt Miriam. Nach einer Woche auf der Intensivstation wird das Paar informiert, dass Leonie zur Überbrückung der Wartezeit bis zur Transplantation ein Herz-unterstützungssystem, das sogenannte Berlin Heart, implantiert werden muss. Dieses übernimmt die Pumpfunktion für eine Herzkammer – damit gewinnt man Zeit. In einigen Fällen sogar Jahre. Und dem Elternpaar wird gesagt, dass ein Jahr Wartezeit auf das neue Herz ihrer Tochter realistisch sei. Nach und nach erholt sich das Mädchen von dem Berlin-Heart-Eingriff. Es beginnt, sich wohler zu fühlen, aktiver zu werden, bekommt neue Energie und lacht immer öfter. Und dann geschieht ein Wunder: Zwei Wochen nach dem Eingriff und drei Wochen nach der Listung für die Organspende erhält Miriam um drei Uhr nachts den Anruf, dass ein geeignetes Herz für ihre Tochter gefunden wurde. Acht Stunden später wird ihre Tochter in den OP gebracht. „Ich hatte den besonderen Wunsch, dass der letzte Herzschlag mit ihrem alten Herz und der erste mit dem neuen Herz aufgenommen wird. Der wurde mir erfüllt“, strahlt Miriam. 

Bei der dilatativen Kardiomyopathie sind eine oder beide Herzkammern massiv vergrößert.

Der Neuanfang
Am Tag der Transplantation wendet sich das Blatt für die Jungfamilie zum Guten – denn Leonie beweist allen: Sie will leben. Statt den üblichen vier bis sechs Wochen, die Säuglinge nach einer solchen Operation normalerweise auf der Intensivstation verbringen müssen, darf Leonie bereits nach zehn Tagen auf die Normalstation – und nach zwei weiteren Wochen endlich nachhause. „Ich glaube fest daran, dass das auch damit zu tun hat, dass wir immer versucht haben, vor unserer Tochter positiv zu bleiben“, sagt Miriam.
Besonders dankbar sind die Eltern für die liebevolle Betreuung im Krankenhaus. Einige der Ärztinnen und Ärzte werden Leonie auf ihrem weiteren Weg begleiten. Es wird kein einfacher Weg werden. Gerade das erste Jahr nach der Transplantation birgt viele Risiken: Das Mädchen ist momentan auf sechs Medikamente pro Tag angewiesen, die nach und nach abgesetzt werden. Bleiben werden zwei Immunsuppressiva, die Leonie ihr Leben lang nehmen muss. Reisen, Einkaufen gehen oder große Unternehmungen sind derzeit nicht möglich, Freunde trifft die Familie hauptsächlich im Freien und im geschützten Rahmen. Auch zuhause muss auf besondere Hygiene geachtet werden. Miriam kann momentan nicht arbeiten, weil Leonie keine Krabbelstube besuchen kann und die Medikamentengabe einen immensen täglichen Zeitaufwand bedeutet. 
Doch das wird sich ändern, sobald das erste Jahr überstanden ist. Dann wird Leonie in den Kindergarten und in die Schule gehen dürfen, sie wird spielen, Sport machen, Hobbys entwickeln und Freunde finden. „Wir sind uns bewusst, dass sie irgendwann wieder stationär im Krankenhaus aufgenommen werden muss. Und es ist auch möglich, dass sie irgendwann eine weitere Transplantation brauchen wird. Das wird unser Leben sein, doch davor darf man keine Angst haben. Denn es ist trotzdem ein Leben mit Qualität. Wir wollen keine Helikopter-Eltern sein. Und wir möchten auch nicht, dass sie mit einem Stigma aufwächst“, sagt Dominik. Über die Spenderin oder den Spender wissen sie nichts, sagt Miriam. „Aber wir sind einfach unglaublich dankbar“, ergänzt sie und eine Träne läuft über ihre Wange, „denn nun darf unsere Tochter leben.“


HILFE FÜR ELTERN

Österreich: 700 Kinder kommen in Österreich jedes Jahr mit Herzfehlbildungen zur Welt. Zwei Drittel der herzkranken Kinder haben ohne die notwendige Operation keine Chance auf eine glückliche Kindheit. Unterstützung, Rat und Beistand finden betroffene Familien bei der Hilfsorganisation Herzkinder.

Informationen: www.herzkinder.at

Deutschland: Der Bundesverband Herzkranke Kinder e.v. (BVHK) ist ein hilfreiches Netzwerk für herzkranke Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien zum Austausch und zur Information, das stetig ausgebaut wird.

Informationen: www.bvhk.de


Text: Michaela Neubauer | Fotos: Adobe Stock/ Syda Productions, iStockphoto/ didesign021, siStockphoto/ marina_ua
Den Beitrag „Ein Herz für Leonie“ lesen Sie in GESUND & LEBEN 12/21.

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