Mit dem Rollstuhl durch Flandern
Der Reisejournalist und Grafiker Martin Bruno Walther verlor durch einen Schicksalsschlag im Jahr 2020 ein Bein und ist seither im Rollstuhl unterwegs. Nun lässt er seine größte Leidenschaft – das Reisen – wieder aufleben und lässt Leserinnen und Leser an seinen barrierefreien Abenteuern teilhaben.
Flanderns Vielfältigkeit
Flandern ist hierzulande nicht ganz unbekannt. Sie haben sicher schon von der weltbekannten Schokolade gehört. Auch die schmackhaften Pommes frites und das köstliche Bier haben hier ihre Heimat. Und nicht zu vergessen die Meistermaler wie Peter Paul Rubens, Pieter Bruegel oder Jan van Eyck – um nur einige zu nennen. Flandern bietet also jedem Reisenden etwas Passendes – auch Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern.
Mit seinen rund 13.500 km2 ist Flandern recht übersichtlich und genau deshalb perfekt geeignet, um es in relativ kurzer Zeit zu entdecken. Es bietet eine Vielzahl an Kunstwerken, Kulturerbestätten, kulinarischen und anderen Höhepunkten, die alle nur einen „Steinwurf“ voneinander entfernt sind.
Anreise nach Flandern über Brüssel
Meine Reise brachte mich eine knappe Woche lang zunächst in die Europa-Hauptstadt Brüssel mit dem Grote Markt und dem gotischen Rathaus, den beeindruckenden Sint-Hubertusgalerien, den mehr als 100 Museen und dem kulinarischen Reichtum in unzähligen Cafés und Restaurants.
Die Anreise nach Brüssel erfolgt unkompliziert ab dem Flughafen Wien mit bis zu sieben täglichen Verbindungen. Doch auch mit der Bahn lässt sich Brüssel dank Nightjet ab Wien optimal erreichen. Vom Brussels Airport Zaventem ins Zentrum nimmt man entweder ein Taxi (rund 55 Euro) oder alle zehn Minuten den direkten Zug (circa 13 Euro). Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer müssen den Transport spätestens drei Stunden vor Abfahrt online unter www.belgiantrain.be anmelden, da der Zustieg nur mit einer mobilen Rampe möglich ist, die von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter bedient werden muss. Die Reservierung, die auch telefonisch erfolgen kann, ist unkompliziert.
Unterwegs in Brüssel
Um einen ersten guten Eindruck über die Stadt zu gewinnen, empfehle ich eine geführte deutschsprachige und für Rollstuhlfahrer ausgelegte Tour. Mein Guide Dirk hat im Vorfeld eine spezielle barrierefreie Route ausgearbeitet. Zu bedenken ist allerdings, dass es viel Kopfsteinpflaster gibt, daher war ich die gesamte Reise über froh, dass ich mit dem Zusatzantrieb SmartDrive von permobil unterwegs war, der ausgezeichnete Unterstützung bot.
Ein Muss ist der Besuch des mittlerweile 66 Jahre alten, 102 Meter hohen Atomiums, das anlässlich der Weltausstellung Expo 58 errichtet wurde. Bis auf die untere Kugel sind alle öffentlichen Räumlichkeiten auch mit dem Rollstuhl zugänglich. Der Blick über die Stadt ist atemberaubend, man sollte sich aber auch die Light- und Sound-Show in der mittleren Kugel nicht entgehen lassen.
Bei der Spazierfahrt durch die Innenstadt kommt man unweigerlich am Grote Markt vorbei, der als einer der schönsten Plätze Europas gilt und durch das gotische Rathaus und die geschlossene barocke Fassadenfront der Zunfthäuser alle Blicke auf sich zieht. Am besten man setzt sich in eines der zahlreichen Cafés am Platz und lässt den Blick schweifen – und wird immer wieder etwas Neues entdecken. Und auch das Kopfsteinpflaster ist schnell vergessen, alle Sinne konzentrieren sich auf das Riechen und Schmecken – an beinahe jeder Ecke gibt es frische Waffeln und andere kulinarische Köstlichkeiten, die verkostet werden wollen – sowie das Sehen, denn auch die Augen werden ob der vielen Sehenswürdigkeiten angenehm gefordert.
Auch Leseratten kommen auf ihre Kosten
Nicht nur Comic-Fans werden vom belgischen Comic-Zentrum begeistert sein und feststellen, dass unzählige berühmte Bildergeschichten wie die „Schlümpfe“, „Tim und Struppi“ oder „Lucky Luke“ aus der Feder belgischer Zeichner entspringen. Ein geführter Rundgang mit vielen Hintergrundinformationen im ehemaligen Jugendstil-Kaufhaus Maison Waucquez ist spannend und lehrreich zugleich und der Shop im Erdgeschoss bietet eine riesige Auswahl an Heften, Büchern, Figuren und Filmen.
Und wenn wir schon beim Thema sind, dann empfehle ich einen Rundgang über die Comic-Strip-Route, bei der man quer durch Brüssel mehr als 60 bemalte Hausfassaden bewundern kann. Dafür sollte man auf jeden Fall mindestens drei Stunden – besser mehr – veranschlagen, denn man findet immer wieder nette Lokale oder Geschäfte, die äußerst einladend zum Anhalten
verführen.
Kulinarische Vielfalt
Mit 94, durch Michelin-Sterne ausgezeichnete, Restaurants bietet Flandern die weltweit größte Dichte an erstklassigen Lokalen. Aber auch sonst ist Essen ein wichtiges Thema. Ich durfte die kulinarische Vielfalt im belgisch/französischen Restaurant „Bonsoir Clara“, im philippinischen Restaurant „Humphrey“, im hippen italienischen „Nona Pizza“ und im traditionellen „Chez Léon“ erleben und genießen – und jedes einzelne war großartig.
Lassen Sie sich vom stets freundlichen Personal beraten und probieren Sie einfach einmal etwas aus, das Sie noch nicht kennen – hierfür bieten sich unzählige Möglichkeiten. Und bei der Reservierung schadet es nie zu fragen, ob die Barrierefreiheit gegeben ist. Mir ist aber aufgefallen, dass selbst bei nicht ganz barrierefreien Lokalen immer gerne geholfen wird – man bleibt also nicht auf der Straße stehen.
Die belgische Bierkultur wurde 2016 in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Die Bar des „Delirium Café Brussels“ – das Wort Café trügt hier – ist der siebte Himmel für alle Hopfenfreunde, denn die Getränkekarte umfasst mehr als 2.000 verschiedene Biere und steht im Guinness-Buch der Rekorde. Ein letzter kulinarischer Tipp, den ich in Flandern kennengelernt habe: Versuchen Sie einmal die Kombination Schokolade und Bier – klingt im ersten Moment eigenartig, kann aber viel!
Übernachten in Brüssel
Als Übernachtungstipp empfehlen kann ich das 4-Sterne Boutique-Hotel „The Dominican“, ein ehemaliges Kloster, mit 150 modernen, stilvoll eingerichteten Zimmern. Es liegt zentral direkt hinter dem Theater Royal La Monnaie und ist ein idealer Ausgangspunkt für Besichtigungen in Brüssel.
Antwerpen
Als zweite Destination stand Antwerpen, die Stadt an der Schelde, die einen der weltweit größten Häfen beheimatet und unter anderem für ihre Diamantenhändler und die internationale Modeszene berühmt ist, auf dem Reiseplan. Bequem ging es in einer Stunde per Zug – nach problemloser, telefonischer Voranmeldung – in Richtung Norden. Schon die Ankunft am eindrucksvollen Bahnhof aus dem Jahr 1905 lässt nicht nur die Herzen von Eisenbahnenthusiasten schneller schlagen, auch ich musste dort ein paar Runden mit meinem Rollstuhl drehen und die wunderbare Architektur auf mich wirken lassen.
Das „große Dorf“, wie die Einheimischen ihr Zuhause liebevoll nennen, ist groß genug, um alles zu bieten, was man braucht, aber klein genug, um überall zu Fuß hinzukommen – in meinem Fall natürlich mit dem Rollstuhl.
Der erste Besuch galt Het Steen, der Stadtburg Antwerpens aus dem 12. Jahrhundert – das älteste erhaltene Gebäude der Stadt. In der langen, wechselhaften Geschichte diente die Burg, die heute nur mehr aus einem kleinen Teil der ursprünglichen Festungsanlage besteht, unter anderem als Gefängnis, Sägewerk oder Fischlager. Man findet dort heute das barrierefreie Visitor Center, ein Kreuzfahrtterminal und die Antwerp Story, bei der man in elf Räumen alles über die Geschichte der Stadt erfährt.
Im Unesco-Weltkulturerbe Museum Plantin-Moretus, dem ehemaligen Wohnhaus und Atelier der gleichnamigen Druckerfamilie, kann man nicht nur die ältesten Druckerpressen der Welt, sondern auch eine Kunstsammlung besuchen.
Antwerpens Museen-Vielfalt
Bei einem geführten Stadtrundgang „rollt“ es dann weiter ins MAS – Museum aan de Stroom –, das durch seine eindrucksvolle Architektur begeistert und in dem man leicht bei wechselnden Ausstellungen einen ganzen Tag verbringen kann. Und wenn man schon dort ist, sollte man unbedingt auf das Panoramadach im zehnten Stock fahren, von wo aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt, den Hafen und die Schelde hat. Innerhalb des MAS führen Rolltreppen von Etage zu Etage, Rollstuhlfahrer können mit dem Lift fahren.
Unweit davon zeigt das Red-Star-Line-Museum die bewegende Geschichte der Auswanderer nach Amerika – mehr als zwei Millionen Menschen starteten hier zwischen 1873 und 1935 ihre lange Reise über den Atlantik. Das sehenswerte Museum ist vollkommen barrierefrei zu besuchen.
Belgische Schokolade oder Fischrestaurant - für alle ist etwas dabei
Und wer nach so viel Sightseeing hungrig oder unterzuckert ist und nach Süßem giert, dem empfehle ich einen Besuch des Palais an der Meir, direkt an der bekanntesten, gleichnamigen Einkaufsstraße Antwerpens. Das Palais im Rokoko-Stil, das u. a. Napoleon gehörte, beherbergt heute auch den „Chocolate Line Shop“ vom belgischen Chocolatier Dominique Persoone, der durch seine außergewöhnlichen Schokoladenkreationen über die Grenzen Flanderns hinweg berühmt ist.
Ein nettes Restaurant, um den Tag kulinarisch ausklingen zu lassen, ist die „Fiskebar“, ein Fischrestaurant mit angeschlossener Weinbar, das Fischgerichte in vielen Variationen und dazu passende Weine kredenzt.
Übernachten in Antwerpen
Ein absoluter Geheimtipp zum Übernachten in Antwerpen ist das „B&B Koto“, das ich nicht nur allen Rollstuhlfahrern wärmstens empfehlen möchte. Das familiär geführte Haus mit nur fünf Zimmern – unter anderem einem barrierefreien Zimmer, das seinesgleichen sucht – macht den Urlaub zu einem wunderbaren Aufenthalt bei Freunden.
Leuven
Die mir unbekannte Stadt Leuven, etwa 30 Kilometer östlich von Brüssel, hat mich mitgenommen. Die jahrhundertealte Universitätsstadt mit rund 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern – und zusätzlich etwa 50.000 Studierenden aus der ganzen Welt –
bietet eindrucksvoll eine sympathische Symbiose aus alt und modern, wie ich sie noch nie gesehen habe. Auch hier gilt: Unbedingt geführte Spaziergänge mitmachen – begeistert hat mich die Spazierfahrt mit Abstechern zu verschiedenen kleinen Brauereien und Bierlokalen, denn Leuven gilt als Bierhauptstadt, und das merkt man an jeder Ecke.
Sehenswertes in Leuven
Mittelpunkt der Stadt ist das gotische Rathaus, das verblüffend an das in Brüssel erinnert – nur ein wenig kleiner. Weiter geht es zum Oude-Markt, der als längste Bar Europas bezeichnet wird, denn nirgendwo sonst gibt es eine größere Dichte an Lokalen.
Ein starker Kontrast dazu ist der Große Beginenhof aus dem 13. Jahrhundert. Diese rund acht Hektar große Anlage diente ursprünglich als Wohnort für Frauen, die keinem Orden angehörten, aber dennoch ein Keuschheits- und Gehorsamkeitsgelübde ablegten. Sie arbeiteten als Stickerinnen, Näherinnen oder waren in der Krankenpflege tätig und verdienten ihr eigenes Geld. Heute ist dieses vollständig restaurierte Viertel eine Insel der Ruhe inmitten der Stadt und lädt zum Verweilen ein – das alte Kopfsteinpflaster macht aber nur ein langsames Vorankommen im Rollstuhl möglich.
Kulinarische Empfehlung
Auch kulinarisch ist Leuven sehr vielfältig. Empfehlen kann ich zum Beispiel die Brasserie ‘t Oud Gasthuys, eine ehemalige Apotheke in einem historischen Innenhof, in der hausgemachte flämische Klassiker serviert werden. Für einen kleinen Lunch eignet sich das „De Hoorn“, das sich in der ehemaligen bekannten Brauerei Stella Artois befindet oder das „Antico Pizza – Hal 5“ in einer ehemaligen Lokomotiven-Remise.
Einen kleinen Brauerei-Tipp gibt es auch noch: In der „Brouwerij de Coureur“ brauen der ehemalige Radrennfahrer Bart und seine Frau Ine köstliches Bier, das man am besten direkt vor Ort während einer gemütlichen Verkostung probiert.
Übernachten in Leuven
Ziemlich zentral, direkt neben dem Bahnhof, und ideal als Ausgangspunkt für die Erkundung der Stadt, kann man im Park Inn by Radisson gut übernachten.
Mein Fazit
Wenn man vom Kopfsteinpflaster absieht, sind Brüssel, Antwerpen und Leuven eine gute Wahl für eine Reise im Rollstuhl. Die kurze Anreise, die unzähligen Sehenswürdigkeiten und die kulinarischen Erlebnisse sind nur drei von vielen Highlights, die ich auf meiner Reise durch Flandern erleben durfte. Ich komme gerne wieder!
Text: Martin Bruno Walther
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